Ein jeder, der sich in früheste Kindertage zurückerinnert, hat die vielen Erzählungen vor Augen, die einen damals in eine völlig fremde Welt katapultierten, mit all diesen merkwürdigen Motiven. Es waren Reisen ins Unbewusste, die voll von tiefen Gefühlen, Gedanken und Träumen waren. Wir hatten damals viele Begegnungen. Die Bremer Stadtmusikanten, Frösche mit goldenen Bällen, die sich schlussendlich in Prinzen verwandeln, tricksende Kater und viele mehr. Aber auch, dass sich am Ende, nach vielen Reisen und Erfahrungen, viele wieder in den Armen lagen, z.B. Vater und Sohn, oder Mutter und Tochter.
Diese Gefühle gehen im Erwachsenenalter oft verloren. Alles wirkt so hektisch und oberflächlich. Oft helfen Märchen-Tattoos, eine Brücke zu schlagen zwischen Realität und Fantasiewelt. Wir tragen Märchenfiguren am Körper, um durch sie an tiefe Gefühle „erinnert“ zu werden und der Gegenwart zu entfliehen. Und noch mehr: Im Grunde die Fähigkeit, die Welt aus einer anderen, fremden Perspektive zu sehen, und sie so neu zu denken.
Für Märchen-Tattoo gilt es aber, sich im Fundus der Figuren, also Menschen, Tiere und Pflanzen frei zu bedienen. Die Motive dienen nur dazu das ureigene Gefühl auszudrücken. Und hierbei sollte alles möglich und abänderbar sein.
Es gibt unzählige Figuren in den Geschichten der Brüder Grimm, Hans Christian Andersen und all den Märchenerzähler*innen, die für jeden Tattoo-Begeisterten Motive sein können. Die Bandbreite der Märchenfiguren erweitert sich stetig, und beweist zudem Wandelbarkeit. Erst kürzlich kann auch die Diversität der LGBTQIA+-Bewegung märchenhaft ihre geschichtsträchtige Anerkennung beanspruchen. LGBTQIA+ steht für lesbian, gay, bisexual, transsexual/transgender, queer, intersex und asexual, und dass, jeder jeden lieben darf, den er/sie/es möchte. Und jeder auch seine Tattoos haben darf, die er möchte. Außer sie rufen zu Gewalt und Diskriminierung auf, versteht sich. Was das mit Märchen zu tun hat?
Erst kürzlich kam heraus, dass es nicht nur Jakob und Wilhelm Grimm waren, die die Geschichten der Märchen zusammentrugen. Auch ihr Bruder Ferdinand sammelte Sagen und Märchen, er war schwul, und hatte eine andere Art der Erzählung. Cool, denn so erweitert sich die Familie der Märchenfiguren erheblich, und bietet uns umso mehr Inspiration und tiefgründige Metaphern. Zum Beispiel ein Zauberer, der seine Verfolger ins Delirium tanzen lässt, oder die vielen Geister, wie der Waldgeist Rübezahl. Die sprechenden magischen Vögel. Oder all die vielen Zwerge, die tief in den Bergwelten unter Erde ihren Tätigkeiten nachgehen. Einmal verirrt sich ein Mädchen in die Zwergenwelt, und sie findet dort „sprenkelige Fasane“, „mächtige Tulpengewächse“ und „zierliche Raupen“. Ferdinand war noch fantasievoller als seine Brüder, es lohnt sich ihn zu lesen. Märchen müssen nicht immer dem Klischee folgen, und auch die vielen Tattoos, die sich diesem Thema widmen, müssen das nicht. Man folge der eigenen Fantasie: Wie wär‘s mit dem „bösen“ Wolf im rosa Tutu, oder dem Rotkäppchen, das mit dem Schneewittchen, um die Lust der sieben Zwerge streitet. Oder Rapunzel, die ihr Haar abschneidet, während der vermeintliche Prinz emporklettert, weil sie einfach kein Bock auf den Typen hat. Denkbar ist vieles, und die Märchen lassen sich vielfältig abwandeln. Insbesondere wenn es um Tattoos geht. Hier ist Witz gefragt.
Noch ein Vorschlag: Warum nicht einfach mal die „bösen“ Buben der Märchen in einem anderen Licht erscheinen lassen? In Märchen siegen am Schluss immer die Guten. Moralisch ist das richtig. Aber böse Figuren sind interessanter und lassen sich wunderbar parodieren. Wie wär‘s wenn die Lebkuchen-Hexe für bessere Arbeitsbedingungen eintritt und zwar gemeinsam mit Hänsel und Gretel. Oder die dunkle Fee Malefiz als Laufsteg-Model Karriere macht. Im Scheinwerferlicht erstrahlen ihre antilopenartigen Hörner, ihre hohen Wangenknochen und die dunklen, tiefen Augen besonders schön.
Märchen als Inspiration für Tattoos dürfen wagemutig und auch ein bisschen verrückt sein. So bekommt ein jedes Individuum seine persönliche Note.
Text: Julian Bachmann / Bild: Jonas Bachmann