Die Zeit ist vorbei, in der in dunklen Seemannskneipen über Tätowierungen und anderweitige körperliche „Sonderlichkeiten“ gemunkelt wurde. Tattoos und körperliche Transformationen liegen im Trend. Und werden überall diskutiert und dargestellt. So auch in der Kunst-Szene.
Auf der diesjährigen Kunst-Biennale in Venedig ist Transformation, Körperlichkeit und Phantasie, allgegenwärtig. Ein guter Grund für uns, dem Event einen Besuch abzustatten. Selbst Venedigs Wappentier ist ja der Löwe mit den Flügeln – ein hybrides Mischwesen.
Die Biennale setzt sich für mehr Spiel in Natur und Mensch ein, für mehr Transformation und Verwandlung. Viele Kunstwerke sind anfassbar und körperbezogen. In unserer Zeit, in der das unsinnliche digitale Leben immer größeren Platz einnimmt, wird es wichtig, seinen Körper – und auch die Wahrnehmung und den Bezug zu seinem Körper – neu und phantasievoll zu gestalten.
„Milk of Dreams“ ist der Titel der Biennale, und spielt auf ein surrealistisches Kinderbuch der Künstlerin Leonora Carrington an. Das weitläufige Kunst-Areal bietet selbst viel surrealistische und farbenfrohe Momente. Nach der langen Pause der großen Kunstmesse ist es den Venezianern anzumerken, wie froh sie sind, die teils bunt, teils aber auch existentialistisch schwarz gekleideten Kunstleute wieder empfangen zu können. Besucher, die mit ihren großen Taschen, langen Schals, und der gekonnt zur Schau gestellten Erotik, die Schönheit Venedigs bereichern. Und schön, wie die Menschen sich wiederum gerne in den unübersichtlichen labyrinthischen Gassen und Parkanlagen Venedigs verlieren. Um sich dann umso mehr zu freuen, wenn sich vor ihnen, wie auf einer Lichtung, eindrucksvolle Kunstwerke auftun.
Die Kuratorin Cecilia Alemani greift dieses magische Treiben für die Biennale auf, und beschreibt es als Welt,
„in der sich jeder verändert, verwandelt, etwas oder jemand anderes werden kann.“
Es ist eine große Errungenschaften der Kuratorin Alemani, dass sie es, in der Gesamtheit der Biennale, deutlich machen kann, dass die Transformation ein holistisches Vorgehen im Großen der Natur selbst ist. Die Natur ist ein übergeordnete Prinzip, das bewirkt, dass sich alles Lebendige immer verwandelt: sie ist die Mutter der Metamorphose – im Sinne Ovids. In der Natur bewegen sich all die Mischwesen, die verwandelten Menschen -menschlich, allzu-menschlich. Und Natur ist mehr als ein Garten, sie ist die Urkraft, die uns alle durchzieht.
Die große Erdskulptur von Delcy Morelos, eine Künstlerin aus Kolumbien, steht im Arsenale für die Versinnbildlichung der Einheit zwischen Natur, Erde und Metamorphose. Die große Erdinstallation weist ganz direkt darauf hin, wie sich alles grundsätzlich verwandelt. Der Mensch kommt aus der Erde und wird zu Erde.
Etwas weiter hinten gelangt der Besucher in den Raum der Künstlerin Precious Okoyomon. Sie hat einen surrealen Kunstgarten errichtet. Mit lebendigen Schmetterlingen, kleinen Flüsschen und aus Erde errichteten Geisterwesen. Zu fremd klingenden Elektrosound geht man selbst als Teil der Inszenierung an den gesichtslosen Wesen aus Erde, Wolle und Blutstropfen vorbei. Die Kunst ist hier ihr eigenes Biotop – und braucht die Menschen nicht. Dem Wanderer dieser Welt muss sich die Frage stellen, wie er sich wieder eingliedern kann, sich aus seiner Entfremdung lösen kann.
Ovid: „Traurig wirst du sein, wenn du allein sein wirst.“
Diese mythische Welt voller Hybride ist ein Gegenkonzept zu einer zu eng gefassten Rationalität. Vernunft sortiert für uns die Welt, blendet Unsicherheiten aus, und fokussiert die Wahrnehmung. Vernunft ist auf Vorhersehbarkeit ausgerichtet. Das hat für uns viele Vorteile. Der Nachteil ist, dass viel an Sinnlichkeit und natürlichen Energien verloren geht, und wir daher von der Natur entfremdet sind. Viele Kunstwerke auf der Biennale zeigen, wie wir uns als Individuen zu sehr von der Natur entfernt haben. Ergebnis davon ist, dass der Mensch vereinsamt.
Es geht sicher nicht darum Kunst gegen Vernunft zu positionieren. Es geht darum, aufzudecken, woher wir und alles Leben kommen. Und wie pulsierend und vielfältig Natur sein kann, wenn man sie neu entdeckt und sich auf sie einläßt.
Der Künstler wird als Naturmagier tätig, und den Zauber der Natur für den Menschen neu entlocken. Für dies schaffen die Künstler Räume, Visualisierungen und Objekte. Die Künstler erschaffen, und tauschen das Rationale gegen Poesie und Lust ein. So gibt es Sex mit Bäumen, sich reibende Körper am Waldboden, oder die polymorphe, nackte Gruppenliebe, wie im niederländischen Pavillon. Hier läuft die Videoinstallation von Melanie Bonajo: Die Körper glitschen glücklich auf- und ineinander, die Befreiung der psychisch/physischen Bedürfnisse und Wunschmaschinen.
Die Kraft der Kunst wird dazu genutzt, das Innere nach außen zu kehren, dem Körper, der immer Innen und Außen zugleich ist, Raum zu geben – und zu zeigen, welche kreativen Kräfte der menschliche Geist freisetzen kann, wenn man ihn lässt.
Der rote Erzähl-Faden der Ausstellungen ist hier das Bekenntnis zur menschlichen Imagination und künstlerischen Schaffenskraft. Diese kann, in einer immer dynamischer und distributiver werdenden Welt, Orte der Sinnlichkeit und Erneuerung schaffen. Und der Besucher der 59. Biennale merkt im Verlauf immer mehr, dass dieser Faden der Ariadnefaden der Zukunft sein muss.
(Text: Julian Bachmann / Grafik: Jonas Bachmann)